Die klassische Konditionierung nach Iwan Pawlow - ein Beispiel

 

"Wie jeden Tag, so wurden wir auch heute früh geweckt. Aber heute ist ein besonderer Tag, ich werde nämlich um 8 Uhr morgens aus der Klinik entlassen. Zwei Wochen für einen Entgiftungsaufenthalt sind mal wieder vorbei. Trotz erheblicher Bedenken bei den mir vertrauten Personen hatte ich durchgesetzt, alleine nach Hause fahren zu dürfen. Bevor ich die Station verlassen konnte, bekam ich noch mit, wie ein vor mir entlassener Kollege bereits wieder volltrunken eingewiesen wurde. Ich habe neben ihm am Bett gestanden und konnte ihn nicht begreifen.

 

Pünktlich um 8 Uhr habe ich dann die Klinik verlassen. Ich wollte zur nächsten Bahnstation und dann mit dem Zug nach Hause fahren. Nur wenige Meter nach Verlassen des Klinikgeländes kam ich an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Der Eingangsbereich des Geschäftes wurde gerade geputzt. Mein Blick fiel auf das Schaufenster und ich sah verschiedene Sorten Whiskyflaschen wunderschön dekoriert. Sofort und unweigerlich verkrampfte sich mir der Magen und ich musste heftig würgen. Jeder, der Entzugserscheinungen kennt, weiss, wie das ist. Ich bin dann sofort in das Geschäft gegangen und habe eine Flasche Schnaps gekauft. Anschließend habe ich sie leer getrunken. Um Vorrat für die Heimfahrt zu besorgen, habe ich nochmals das Geschäft aufgesucht. Danach habe ich die Heimreise angetreten und bin volltrunken zu Hause angekommen."

 

Vielen ist der klassische Konditionierungsprozess nach Pawlow bekannt. Was passiert da? Nach Darbietung des Futters sondern die Tiere Speichel ab, eine natürliche, biologische Reaktion, die nicht erst gelernt werden muss. Zur selben Zeit auftauchende Reize, z.B. der Anblick des Futters oder der fütternden Person, sind nach kurzer Zeit bzw. einigen Versuchsdurchgängen ebenfalls in der Lage, die Speichelabsonderung auszulösen. Die Tiere lernen also ein Verbindung herzustellen zwischen einem ursprünglich neutralen Reiz (Futter) und in der unmittelbaren Nähe angesiedelten anderen Reizen bzw. Reizkonstellationen wie z.B. Wärter oder Versuchsleiter. Folge davon ist, dass die Reaktion Speichelabsonderung auf den neutralen Reiz Futter künftig durch das blosse Erscheinen des Wärters oder Versuchsleiters ausgelöst werden kann. Man nennt dies eine konditionierte Reaktion.

 

Immer dann, wenn es um klassische Konditionierung geht, geht es auch um physiologische Erscheinungen, z.B. reflexartiges Verhalten bzw. Abläufe. Derartige Reizbedingungen lösen bei Tieren Erregbarkeit aus. Auch diese kann sich dann verselbständigen und auf ähnliche Situationen übertragen werden, die ebenfalls Erregung auslösen.

 

Auf mein Beispiel bezogen bedeutet klassische Konditionierung also: Der Blick bzw. die Wahrnehmung von Whiskyflaschen bedingt automatisch ablaufende physiologische Reaktionsabfolgen im Nervensystem. Diese führen zu Würgen, Erbrechen und Verkrampfung des Magens. Daraus folgen Panik, Hilflosigkeit und die Beendigung der Situation durch Trinken von Alkohol. Jeder Abhängige kennt die Situation aus der Bekämpfung von Entzugserscheinungen. Erstaunlich, aber auch erschreckend ist die Macht, die hinter der geschilderten Reaktionabfolge steht. Ich war als Betroffener in der Situation völlig außerstande, nach Alternativmöglichkeiten zu suchen. Klassische Konditionierung führt also auf einer Verhaltensebene nicht nur etwas aktiv herbei, sondern unterdrückt auch etwas wie z.B. Denkleistungen. Fatale Folgen können klassisch konditionierte Reaktionen haben, die zum Zeitpunkt der Entstehung einen Nutzen für den Organismus hatten, welcher aber danach wegfällt. Bleibt die konditionierte Reaktion bestehen, wirkt sie selbstzerstörerisch.